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Gelegenheiten sind ein tückisches Gemüse mit winzigen Früchten, die schwer zu erkennen und noch schwerer zu ernten sind.
Anonym
Norma Cevna kam sich wie ein Eindringling vor, als sie im Arbeitszimmer ihrer Mutter stand. Von hier aus konnte man über das Blätterdach der purpurnen Bäume schauen. Draußen fiel ein saurer, dunstiger Regen. Einige der Tropfen enthielten Verunreinigungen und giftige Substanzen von fernen aktiven Vulkanen. Am Horizont sah sie dunkle Wolken, die näher kamen. Bald würde es in Strömen regnen.
Warum hatte Aurelius Venport sie hierher geschickt? Was sollte sie hier finden?
Ihre strenge Mutter hatte diesen Raum mit den weiß gekalkten Wänden asketisch eingerichtet. In einer Nische lag die Kleidung, die die Zauberin zu besonderen Anlässen trug. Für Norma waren diese Sachen viel zu groß und extravagant. Zufa Cevna war auf einschüchternde Weise schön, ihre leuchtende Reinheit ließ sie so vollkommen – und genauso hart – wie eine klassische Skulptur erscheinen. Selbst ohne telepathische Fähigkeiten könnte sie Männer wie Insekten zum Honig locken.
Aber die führende Zauberin hatte nur einen oberflächlichen Liebreiz, unter dem sich eine Unversöhnlichkeit gegenüber ihren Untergebenen verbarg, die sie niemals vor Norma zeigte. Es war nicht so, dass Zufa ihrer Tochter nicht vertraute. Sie hatte nur entschieden, dass ihre offiziellen Angelegenheiten das Mädchen nichts angingen. Genauso wie ihre telepathischen Gefährtinnen hatte sie sich die Geheimniskrämerei zum Prinzip gemacht.
Doch Aurelius hatte hier etwas entdeckt. »Es wird dir gefallen, wenn du es findest«, hatte er lächelnd zu ihr gesagt. »Ich vermute, dass deine Mutter dir irgendwann davon erzählen wird ... aber ich glaube nicht, dass es für sie eine große Priorität besitzt.«
Ich hatte für sie noch nie eine große Priorität. Neugierig, aber sorgsam darauf bedacht, nicht erwischt zu werden, setzte Norma ihre Suche fort.
Ihr Blick fiel auf ein Notizbuch aus Faserpapier, das auf dem Schreibtisch lag. Das dicke Buch hatte einen braunen Einband mit unentzifferbaren Schriftzeichen, die genauso obskur wie die mathematische Formelsprache waren, die Norma entwickelt hatte. Als sie einmal die Zauberinnen bei einem Gespräch über ihre komplizierten Pläne belauscht hatte, war der Begriff »Azhar« gefallen, mit dem sie offenbar ihre Geheimsprache bezeichneten.
Seit der Rückkehr von Salusa Secundus hatte sich ihre Mutter noch distanzierter und unnahbarer als gewöhnlich verhalten. Nach dem Cymek-Angriff schien sie das Bedürfnis nach größeren Unternehmungen zu verspüren. Als Norma sie nach der Entwicklung des Krieges fragte, hatte Zufa sie lediglich mit gerunzelter Stirn angeblickt. »Wir kümmern uns darum.«
Die führende Zauberin verbrachte die meiste Zeit in der isolierten Gesellschaft einer kabbalistischen Frauenclique, in der flüsternd Geheimnisse ausgetauscht wurden. Zufa hatte eine neue Leidenschaft, eine neue Idee, die sie gegen die Denkmaschinen einsetzen wollte. Wenn ihre Mutter irgendeine Möglichkeit gesehen hätte, wie Norma etwas dazu beitragen konnte, hätte sie das kleinwüchsige Mädchen in ihren Dienst gezwungen. Stattdessen hatte Zufa ihre Tochter vollständig abgeschrieben, ohne ihr auch nur eine Chance zu geben.
Die talentiertesten Frauen, insgesamt etwa dreihundert, hatten sich eine abgeschiedene Zone im tiefen Dschungel geschaffen, zu dem nicht einmal die pharmazeutischen Prospektoren Zutritt hatten, die für Aurelius Venport arbeiteten. Jeder, der sich in die Nähe dieses Bereichs wagte, wurde von seltsamen schimmernden Barrieren aufgehalten.
Die stets wachsame Norma hatte unerklärliche Explosionen und Brände bemerkt, wo Zufas handverlesene Zauberinnen ihr wochenlanges intensives Training durchführten. Ihre Mutter kam nur noch selten in ihre Felsenwohnung ...
Nun entdeckte Norma unter dem braunen Notizbuch zwei Blätter aus gutem weißem Papier. Es war das pergamentartige bleiche Material, das häufig von Kurieren der Liga verwendet wurde. Das musste es sein, worauf Aurelius sie hinweisen wollte.
Sie zog einen kleinen Hocker zum Tisch und stieg hinauf. Sie konnte den Briefkopf auf dem oben liegenden Pergament erkennen – es war ein offizielles Schreiben von Poritrin. Neugierig und besorgt, dass ihre Mutter vielleicht früher aus dem Dschungel zurückkehrte, nahm sie die Blätter und las erstaunt die schwarzen, hochoffiziell wirkenden Schriftzeichen: »WEISER TIO HOLTZMAN«.
Aus welchen Grund hatte der große Erfinder ihrer Mutter einen Brief geschrieben? Das Mädchen beugte sich vor und las die Anredezeile: »Sehr geehrte Norma Cevna.« Mit gerunzelter Stirn überflog sie das Schreiben, dann las sie es noch einmal gründlich durch, während ihre Begeisterung – und ihre Wut – immer größer wurden. Tio Holtzman möchte, dass ich nach Poritrin komme und bei ihm in die Lehre gehe! Er hält mich für brillant? Das kann ich nicht glauben.
Ihre eigene Mutter hatte ihr diesen Brief vorenthalten oder zumindest die Übergabe hinausgezögert! Zufa hatte nichts zu ihr gesagt. Wahrscheinlich glaubte sie einfach nicht, dass der Weise wirklich an ihrer Tochter interessiert sein könnte. Zum Glück hatte Aurelius ihr davon erzählt.
Norma eilte in das Geschäftsviertel der Felsenstadt. Sie fand Venport in einem kleinen Teeladen, wo er gerade eine Besprechung mit einem zwielichtigen Händler abschloss. Als sich der dunkelhäutige Mann erhob und ging, kam sie in ihrem typischen ungelenken Gang herüber und setzte sich zu ihm an den Tisch.
Venport begrüßte sie mit einem warmen Lächeln. »Du wirkst aufgeregt, Norma. Hast du zufällig den Brief vom Weisen Holtzman gefunden?«
Sie schob ihm das Dokument über den Tisch zu. »Meine Mutter wollte verhindern, dass ich von seinem Angebot erfahre!«
»Zufa ist eine unerträgliche Frau, ich weiß, aber du musst versuchen, sie zu verstehen. Da keiner von uns beiden zu den Dingen imstande ist, die ihr am meisten bedeuten, missachtet sie unsere Fähigkeiten. Sie ist sich durchaus deiner mathematischen Talente bewusst, Norma, und sie weiß auch, dass ich ein guter Geschäftsmann bin, aber das alles zählt für sie nicht.«
Norma wand sich auf dem Stuhl, weil sie sich weigerte, die Angelegenheit aus der Perspektive ihrer Mutter zu sehen. »Aber warum hat sie dann diesen Brief versteckt?«
Venport lachte. »Es war ihr vermutlich peinlich, dass du so viel Aufmerksamkeit erregt hast.« Er drückte ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen, ich werde eingreifen, falls deine Mutter versucht, diese Sache zu blockieren. Im Augenblick ist sie so sehr mit den anderen Zauberinnen beschäftigt, dass sie wahrscheinlich gar keine Einwände erheben würde, wenn ich mich um den nötigen Papierkram kümmerte.«
»Das würdest du tun? Sollte meine Mutter nicht ...?«
»Ich werde mich um alles kümmern. Und um sie.« Er umarmte Norma. »Ich glaube an deine Fähigkeiten.«
In Zufas Namen sandte Aurelius Venport ein offizielles Antwortschreiben an den berühmten Erfinder und erklärte das Einverständnis der Betroffenen, Norma nach Poritrin zu schicken. Dort sollte die junge Frau bei ihm studieren und ihm bei seiner Arbeit assistieren. Für Norma war es die große Chance ihres Lebens.
Ihre Mutter würde vielleicht gar nicht bemerken, dass sie fort war.